Lexikon der Mobilität

Leistungsfähigkeit, Teil 1: Auf der Strecke geblieben

Fundamentaldiagramm q-v (Zufluss vs. Geschwindigkeit)

Leis|tungs|fä|hig|keit, die (f.): Schlüsselgrösse der Verkehrstechnik, aber auch wichtig für die Verkehrsplanung allgemein. Beschreibt, wie viele Fahrzeuge oder Menschen eine bestimmte Strecke oder einen Knoten pro Stunde maximal passieren können. So komplex und vielfältig, dass mehrere Blogeinträge im Lexikon nötig werden.

Teil 1: Auf der Strecke geblieben

Vorbemerkung: Ich bin – wie bereits in einer Planungsgeschichte geschrieben – klar der Meinung, dass es in der Verkehrsplanung darum gehen muss, Menschen zu bewegen und nicht Fahrzeuge. Das bedingt eine verkehrsmittelübergreifende Betrachtung. In diesem Beitrag geht es trotzdem nur um den Autoverkehr, weil sich hier das Thema «Leistungsfähigkeit auf der Strecke» besonders stellt. Und weil das der einfachste Fall ist, an welchem sich die grundsätzlichen Gesetzmässigkeiten gut beschreiben lassen. Die anderen Verkehrsmittel beleuchte ich in den nächsten Teilen.

Worum es geht

Wer hat das nicht schon erlebt: Eben floss der Verkehr auf der Strasse noch frei – und plötzlich Stau. Woher kommt das? Bis wann ist eine Strasse noch leistungsfähig? Und wovon hängt das ab?

Wenn es darum geht, Verkehr zu erklären, werden oft das Wasser und die Hydraulik ins Spiel gebracht: Der Verkehr «fliesst», eine bestimmte Verkehrsmenge mit gleichem Ziel ist ein «Strom», und wenn Strassen (also die «Leitungen») nicht mehr ausreichen, soll es ein «Bypass» richten. In der Hydraulik gilt, dass mehr Wasser je Sekunde durch eine Leitung fliesst, je grösser der Querschnitt und je höher die Fliessgeschwindigkeit ist. Die Dichte des Wassers (also der Abstand der einzelnen Teilchen) kann hingegen nicht verändert werden.

Lässt sich diese Wasseranalogie 1:1 auf den einfachsten Fall der verkehrlichen Leistungsfähigkeit übertragen – nämlich eine Autostrasse mit nur einer Spur je Richtung, ohne Velos, Fussgänger und Kreuzungen? Können also mehr Fahrzeuge pro Zeiteinheit auf dieser Strasse fahren, wenn wir die Autos schneller fahren lassen? Und lässt sich der Autostrom wie das Wasser nicht komprimieren? Oder steigt die Leistungsfähigkeit noch mehr, wenn die einzelnen Teilchen des Elements Verkehrs – die Fahrzeuge – in kürzerem Abstand hintereinander fahren? Diese Fragen stehen im Zentrum des ersten Teils zu diesem Thema.

Wie wir damit arbeiten

Messungen zeigen, dass die Leistungsfähigkeit einer Strecke ähnlich wie beim Wasser von der Anzahl Spuren und der Geschwindigkeit abhängt. Im Gegensatz zur Hydraulik nimmt die Kapazität aber irgendwann nicht mehr weiter zu, auch wenn die Geschwindigkeit immer höher wird. Und die Geschwindigkeit wird auch nicht einfach durch die Tempolimits begrenzt, sondern sie ist abhängig von der Anzahl Fahrzeuge. Diese Zusammenhänge zwischen dem Zufluss, der Geschwindigkeit und der Verkehrsdichte zeigt das sogenannte Fundamentaldiagramm.

Nehmen wir als Beispiel die Zufahrt auf der A2 von Norden Richtung Gotthardtunnel. Hier verkehren nur Autos und Lastwagen, und zwar (noch) auf einer Spur pro Richtung. Die horizontale Achse zeigt, wie viele Fahrzeuge auf einer bestimmten Strecke – z.B. auf dem letzten Kilometer vor dem Tunnelportal – gleichzeitig unterwegs sind (Verkehrsdichte). Die vertikale Achse zeigt, wie viele Fahrzeuge während einer Stunde vom Urnerland her Richtung Tunnel fahren (Zufluss). Jeder kleine grüne oder rote Punkt beschreibt einen Zustand, der tatsächlich gemessen wurde. Und die Kurve zeigt in vier Abschnitten, welcher Zusammenhang zwischen dem Zufluss und der Verkehrsdichte besteht.

Fundamentaldiagramm q-k (Zufluss/Verkehrsdichte)

Wie würden nun Autofahrer*innen die vier Abschnitte erleben?

Gehen wir davon aus, dass – wie ausser 2020 jedes Jahr an Ostern – der Verkehr von Norden ab Dienstagabend immer mehr zunimmt, würde sich die folgende Geschichte abspielen:

  1. Freiheit pur, null Probleme: Wer Richtung Gotthardtunnel fährt, kann ihn auch passieren – und zwar in der gewünschten Geschwindigkeit. Der Zufluss entspricht direkt dem Durchfluss. Die Verkehrssituation ändert sich kaum, alle grünen Punkte sind nahe bei der Linie. In der Verkehrstechnik nennen wir das «freier Verkehrsfluss».
  2. Es wird eng: Wenn der Verkehr von Norden weiter zu- und die Abstände abnehmen, passen Lenker*innen ihr Fahrverhalten an. Oft müssen sie das auch, weil es die vorausfahrenden Autos tun. Die mittlere Geschwindigkeit nimmt langsam ab und kann auch nicht mehr frei gewählt werden. Die verschiedenen Lenker*innen versuchen, gemeinsam ein Tempo zu finden, das einen stabilen Verkehrsfluss ermöglicht (was nicht ganz einfach ist, wenn man sich nicht verständigen kann). Die Verkehrsdichte nimmt schneller zu als der Zufluss, d.h. es sind immer mehr Fahrzeuge auf dem letzten Kilometer unterwegs. Die Streuung der grünen Punkte nimmt zu (d.h. mal läuft es besser, mal auch weniger). In der Theorie nennt man das auch «gebundenen oder synchronisierten Verkehrsfluss». Spoiler: Mit autonomen Fahrzeugen kann diese Phase über einen längeren Zeitraum und bei höherer Dichte (d.h. bei grösserem Zufluss) aufrechterhalten werden, aber dazu mehr im nächsten Beitrag.
  3. Jetzt reichts: Der Strassenabschnitt ist voll. Die einzelnen Autos folgen sich in regelmässigem, eher kleinem Abstand, gerade noch genug, um rechtzeitig zu bremsen. Ab jetzt reichen wenige weitere Fahrzeuge, um den Verkehrsfluss empfindlich zu stören. Die Geschwindigkeit bricht dann zusammen, alle müssen bremsen – der «Stau» ist da. In der Verkehrstechnik sprechen wir bei diesem Punkt von der Kapazitätsgrenze.
  4. Ab jetzt wird es nur noch schlimmer: Wenn weitere Fahrzeuge zufahren (und das machen sie ja in der Regel, weil der Zustrom aus dem Urnerland nicht plötzlich versiegt), ist jede*r weitere gleichzeitig Opfer und Täter: Im Stau und gleichzeitig Grund dafür, dass er noch länger dauert. Dabei wächst der Stau gegen die Fahrrichtung: Während die ersten Fahrzeuge ganz vorne relativ bald wieder ungehindert weiterfahren können, kommen weiter hinten immer mehr Fahrzeuge zum Stillstand. Auf dem letzten Kilometer vor dem Tunnel sind jetzt gleichzeitig so viele Fahrzeuge wie nie zuvor – allerdings stehend und nicht fahrend. Der Stau löst sich in der Regel erst auf, wenn weniger Fahrzeuge pro Minute in den überlasteten Bereich einfahren (z.B. nach Ende der Hauptverkehrszeit). Die Streuung ist gross (d.h. der Stau ist mal schwerer und mal weniger, es kann relativ kurz dauern, aber auch sehr lang).

Auch der Zusammenhang zwischen Zufluss und Geschwindigkeit lässt sich in einem Fundamentaldiagramm darstellen. Dabei werden die beschriebenen Punkte nochmals deutlich: In der Phase 1 ist die Geschwindigkeit hoch und relativ konstant (üblicherweise im Bereich der signalisierten Höchstgeschwindigkeit). Sie nimmt dann in Phase 2 langsam ab, je mehr Fahrzeuge zufahren: Die Lenker*innen stellen sich auf eine gemeinsame Geschwindigkeit ein, die meistens etwas tiefer liegt, als wenn sie frei wählen könnten. Die Geschwindigkeit, die sich beim maximalen Zufluss in Phase 3 einstellt, ist aus Sicht der Leistungsfähigkeit die optimale Geschwindigkeit: Weil sich bei der maximal möglichen Belastung diese Geschwindigkeit einstellt, ist bei dieser Geschwindigkeit die Kapazität am grössten. Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, dass diese optimale Geschwindigkeit auf Autostrassen und Autobahnen bei rund 80 bis 100 km/h liegt. Deshalb wird die Höchstgeschwindigkeit auf stark befahrenen Autobahnen während der Pendlerspitzen seit einigen Jahren temporär gezielt gesenkt. Wenn mehr Fahrzeuge zufahren als die Kapazität zulässt, nimmt die Geschwindigkeit schliesslich schnell ab (Phase 4, Stau).

Fundamentaldiagramm q-v (Zufluss vs. Geschwindigkeit)

Was können wir aus den Fundamentaldiagrammen lernen?

Erstens: Es gibt eine maximale Leistungsfähigkeit einer einspurigen Autostrasse. Diese liegt je Richtung im Mittel bei rund 1’800 Fz/h. Ist die Strecke flach und hat wenig Kurven, kann die Leistungsfähigkeit auch auf bis zu 2’000 Fz/h steigen. Sind viele Lastwagen unterwegs, sinkt sie vor allem bei kurvigen Abschnitten und in Steigungen, und zwar etwa in gleichem Masse, wie der prozentuale Lastwagenanteil zunimmt. Die übliche Bandbreite von 1’600 bis 2’000 Fz/h entspricht etwa einem Fahrzeug alle 1.8 bis 2.2 Sekunden. Die berühmte 2-Sekunden-Regel aus der Fahrschule ist also nicht nur aus Sicherheitsgründen richtig, sondern auch im Hinblick auf die Kapazität vorteilhaft. Zweitens: Die maximale Leistungsfähigkeit stellt sich bei einer (aus Kapazitätssicht) optimalen Geschwindigkeit ein. Diese liegt in der Regel im Bereich von 80 bis 120  km/h. Auch hier hängt das Optimum von äusseren Einflüssen wie Kurvigkeit, Steigung und Lastwagenanteil ab.

Die oben beschriebene Streuung zeigt aber auch, dass es nicht nur ein einziges Fundamentaldiagramm für einen bestimmten Strassentyp gibt. Die Zusammenhänge zwischen Zufluss, Verkehrsdichte und Geschwindigkeit hängen von vielen Faktoren ab und diese sind gerade in der Schweiz noch nicht in aller Tiefe erforscht. Zudem gibt es Unterschiede zwischen einzelnen Ländern bzw. Regionen, weil sich das Fahrverhalten unterscheidet, und auch das Wetter hat einen Einfluss.

Funktioniert also die so häufig angewandte Analogie mit dem Wasser nicht?

Nein, weil Wasser im Gegensatz zum Verkehr nur den Gesetzen der Physik gehorchen muss (diesen allerdings zu 100%): Wasserteilchen in der Leitung werden bei genügend Druck oder Gefälle immer schneller. Je schneller das Wasser, desto mehr Wasser fliesst pro Minute, weil die Teilchen immer denselben Abstand halten. Fliesst zu viel Wasser den Bach hinunter, beginnt es zuerst zu sprudeln und schäumen, anschliessend tritt es über das Ufer. All diese Muster gibt es im Verkehr nicht: Autos können nicht davonfliegen oder ihre Form ändern, wenn zu viel Verkehr unterwegs ist. Und im Gegensatz zu Wasserteilchen sind auch nicht alle Fahrzeuge gleich: Es gibt Autos mit unterschiedlichem Beschleunigungsvermögen und es verkehren Lastwagen mit oder ohne Anhänger auf derselben Strasse. Und schliesslich die unberechenbarste Grösse im Verkehr: Die Köpfe und Bäuche der einzelnen Fahrzeuglenker*innen. Deren Reaktionsvermögen, Risikobereitschaft oder auch nur die (empfundene) Dringlichkeit ihrer Fahrt haben einen grossen Einfluss darauf, wie sie ihr Fahrzeug lenken – und das ist eben meistens etwas anders als bei allen anderen. Diese Unterschiede im Fahrverhalten führen bei hoher Belastung dazu, dass der homogene, gebundene Verkehrsfluss gestört wird – und wenn die Störung zu gross ist, kommt es eben zum Stau.

Womit kann ich Verkehrsfluss und Leistungsfähigkeit denn sonst einfach vergleichen?

Viel besser passt aus meiner Sicht eine Analogie zum Nachtleben: Mit einem Club (=Strasse), einem Türsteher (=Kapazitätsgrenze) und Partygästen (=Autos). Bezogen auf die obigen beiden Diagramme bedeutet das:

  1. Die Party geht los, die Gäste trudeln langsam ein. Der Türsteher lässt alle ohne langes Warten rein.
  2.  Langsam füllt sich der Schuppen. Der Türsteher wird nervös und schaut immer wieder mal durch die Türe, ob es noch Platz hat. Er lässt zwar noch mehr Leute rein, aber langsamer.
  3. Der Club ist voll, die maximale Belegung ist erreicht. Die Clubbesitzerin ermahnt den Türsteher, niemanden mehr reinzulassen. Die Schlange vor dem Eingang wird ab diesem Moment nur noch länger.
  4. Selbst wenn jetzt einige wenige Gäste die Party verlassen, wächst die Schlange vor dem Club weiter an. Der Türsteher lässt gelegentlich noch zwei, drei Gäste rein, aber gleichzeitig stellen sich immer neue Menschen hinten in die Schlange. Irgendwann ist der ganze Platz vor dem Club bis an den Strassenrand dicht gefüllt.

Also, denk daran, wenn Du das nächste Mal im Stau stehst: Es geht nicht um Wasser, sondern es geht wie bei einem Club um Angebot und Nachfrage. Wenn zu viele rein wollen, ist irgendwann Schluss, und dann müssen alle warten, die noch draussen sind. Und wie beim Club gilt auch auf der Strasse: Es gibt keine Ausnahme und mit dem Türsteher ist nicht gut Kirschen essen…

Warum das wichtig ist

Weil die Gesetzmässigkeiten der Leistungsfähigkeit im Verkehr im Grundsatz klar sind und auch beschrieben werden können. Weil sie dennoch nicht einfach von der Physik, sondern eben auch von der Psychologie von uns allen und von äusseren Bedingungen abhängen. Und damit Du weisst, dass im Gegensatz zum Wasser ein stärkerer Druck (d.h. eine höhere Geschwindigkeit) nicht ausreicht, damit der Verkehr besser fliesst. Was können wir denn gegen den Stau machen? Das wird Thema des nächsten Beitrags sein.

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