Planungsgeschichten

Wieso wächst der Verkehr oder die Frage nach Huhn und Ei

Die schon oft gehörte Geschichte

Führen Ausbauten des Strassennetzes zu mehr Verkehr? Oder befriedigen sie nur die wachsende Nachfrage, die ohnehin entsteht? Wer ist das Huhn und was das Ei? Zu dieser zentralen Streitfrage der Mobilitätspolitik hat ASTRA-Direktor Jürg Röthlisberger kürzlich in einem Interview mit dem Tagesanzeiger klar Stellung bezogen:

Diese und weitere Aussagen im Interview lassen sich kurz zusammenfassen: Der Verkehr muss fliessen. Wir müssen das Strassennetz deshalb zumindest punktuell immer weiter ausbauen. Und diese Ausbauten haben höchstens einen marginalen Einfluss auf die Nachfrage selbst. Die Mobilitätsnachfrage ist und bleibt also immer das Huhn und der Strassenausbau das Ei. Diese eindeutige Haltung ist von hoher verkehrspolitischer Relevanz. Als Direktor des Bundesamtes für Strassen ist Röthlisberger auf Verwaltungsebene der oberste Verantwortliche für die Entwicklung des Nationalstrassennetzes, welches 41% der Strassenverkehrsleistung in der Schweiz übernimmt.

Die etwas andere Geschichte

Der ASTRA-Direktor könnte die Bedeutung «seines» Nationalstrassennetzes auch differenzierter sehen: Als Basisinfrastruktur, welche die Raumstruktur unseres Landes stark gestaltet hat und immer noch beeinflusst – und zwar im Guten wie im Schlechten. Ja, die Nationalstrassen haben gerade abgelegenen Landesteilen eine bessere Anbindung an die Zentren gebracht. Und ja, als leistungsfähiges Netz haben sie auch zur Entlastung der städtischen Regionen vom Autoverkehr beigetragen. Aber Autobahnen haben durch die bessere Erreichbarkeit eben auch die Voraussetzungen für weitere Wege und damit für mehr Verkehr geschaffen. Und grosszügige Kapazitäten für den motorisierten Individualverkehr erhöhen den Anreiz, das eigene Auto zu nutzen – und damit wird es zumindest relativ weniger attraktiv, mit dem Velo, zu Fuss oder mit dem ÖV unterwegs zu sein.

Für eine solche, differenziertere Sicht auf den Zusammenhang zwischen Strassenkapazitäten und Verkehrsentwicklung sprechen viele Indizien:

  • Mehrere theoretische Ansätze legen nahe, dass ein Ausbau von Strassen ohne weitere Massnahmen zu neuem Verkehr führt. Dazu gehören das Braess-Paradoxon, die Marchetti-Konstante und das Downs-Thomson-Paradoxon. Ich habe diese Effekte bereits in einem früheren Beitrag erläutert. Meines Wissens wurde keiner dieser Ansätze bis heute widerlegt.
  • Aus einer ökonomischen Sicht ist ebenfalls davon auszugehen, dass dieser Zusammenhang besteht. Eine neue oder ausgebaute Strasse entspricht einem grösseren Angebot. Dadurch sinken die Mobilitätskosten (tiefere Reisezeiten), im Gegenzug steigt die Nachfrage. Es stellt sich also ein neues Marktgleichgewicht ein, zumindest wenn ein Abschnitt vor dem Ausbau überlastet war (das Angebot also knapp war). Ich sehe nicht ein, warum diese Zusammenhänge für das Gut Mobilität nicht gelten sollen, wenn sie doch für so viele andere Güter nachweislich gelten. Der Vergleich von Röthlisberger im Interview mit den Gefängnisplätzen (deren Ausbau nicht zu mehr Kriminalität führt) hinkt gewaltig: Im Gegensatz zur Mobilität handelt es sich bei Kriminalität bzw. Verurteilungen nicht um ökonomische Güter.
  • Die auch vom ASTRA in Wirtschaftlichkeitsanalysen bedeutsamen Reisezeitgewinne beruhen ebenfalls auf dem beschriebenen ökonomischen Ansatz. Diese hohe Bedeutung von Reisezeitgewinnen in Wirtschaftlichkeitsberechnungen ist zwar durchaus diskutabel, wie ich bereits einmal ausgeführt habe. Wenn der Bund aber die diesen Gewinnen zugrundeliegende Marktlogik bei der Begründung neuer oder auszubauender Strassen respektiert, dann muss er auch deren Konsequenzen für die Verkehrsnachfrage beachten.
  • Autofahrende reagieren besonders sensibel auf die beschriebenen Zeitgewinne wegen der speziellen Preisstruktur: Für die Anschaffung des Fahrzeugs und den Unterhalt fallen periodisch relativ hohe Kosten an. Für die einzelne Fahrt sind die Kosten vergleichsweise gering. Wenn ich also ein eigenes Fahrzeug zur Verfügung habe, spielen die Kosten für eine zusätzliche oder weitere Fahrt keine grosse Rolle. Relativ dazu sind die Reisezeitgewinne dann viel wichtiger. Das führt dazu, dass geringfügig tiefere Reisezeiten durch einen Angebotsausbau schnell zu einer höheren Nachfrage führen.
  • Auch der Blick zurück in die Vergangenheit zeigt, dass das Verkehrsangebot schon immer die Verkehrsnachfrage beeinflusst hat. Das mittelalterliche Städtenetz beruht auf den maximal möglichen Distanzen, die in einem Tag zu Fuss und mit Karren zurückgelegt werden konnten. Über lange Zeit war das nicht mehr als 15 km. Als schnellere Verkehrsmittel zur Verfügung standen, legten die Menschen immer grössere Distanzen pro Tag zurück – und damit wuchs der Verkehr. Im 20. Jahrhundert postulierten Stadtplaner wie Le Corbusier oder Hans Bernhard Reichow mit der Charta von Athen die autogerechte Stadt als Rückgrat der Stadtentwicklung. Diese einseitige Stärkung des Angebotes für einen einzelnen Verkehrsträger ermöglichte und beförderte erst den stark wachsenden Autoverkehr in den urbanen Räumen. Heute sind sich Verkehrs- und Städteplaner weitgehend einig, dass dieser Ansatz gescheitert ist.
  • Und was zeigen die konkreten Daten für die reale Verkehrsentwicklung auf dem schweizerischen Strassennetz? Über den ganzen Tag gesehen hat zum Beispiel die Verkehrsbelastung der A1 im Querschnitt Baregg nach der Eröffnung der 3. Tunnelröhre 2003 von ca. 95’000 Fz/d bis 2016 auf rund 125’000 Fz/d zugenommen. Das ist ein Wachstum um rund 32% innert knapp 15 Jahren. Im gleichen Zeitraum ist die Bevölkerung im Espace Mittelland um 10% gewachsen, im Kanton Aargau alleine um 18%, ähnlich wie im Kanton Zürich mit 19%. Das Verkehrswachstum am Baregg war also deutlich stärker als das Bevölkerungswachstum der angrenzenden Grossregionen.
    Aber wieso dann das starke Verkehrswachstum? Nun: Im Aargau verlief das Wachstum der einzelnen Gemeinden sehr unterschiedlich: Prozentual deutlich überdurchschnittlich gewachsen ist die Bevölkerung von 2003 bis 2016 zum Beispiel in Birmenstorf, Niederrohrdorf, Stetten, Hausen, Rupperswil, Hunzenschwil, Dintikon oder Staufen. Was verbindet diese (und weitere ähnliche) Gemeinden? Sie liegen ziemlich nahe an einem A1-Anschluss – und mit dem Ausbau der A1 am Baregg verringerte sich die Fahrzeit mit dem Auto Richtung Grossraum Zürich, zumindest während der Hauptverkehrszeiten. Es wurde attraktiver, in einer dieser Gemeinden zu wohnen und mit dem Auto Richtung Zürich zu pendeln. Das erklärt nicht das ganze Verkehrswachstum am Baregg – einen Teil davon aber sicher.

Auch diese Indizien belegen nicht zweifelsfrei, dass jeder Ausbau zu mehr Verkehr führt. Wer Huhn und was Ei ist, lässt sich bei dieser komplexen Frage eben nicht so einfach beantworten: Neben den täglichen Mobilitätsentscheidungen haben auch Standortentscheidungen  von Privaten und Unternehmen einen Einfluss darauf, und diese werden wiederum von anderen Faktoren (Nähe zu Bildungseinrichtungen, Steuerbelastung, etc.) beeinflusst. Gleichwohl lassen die vielen Indizien zumindest stark vermuten, dass Ausbauten einen Einfluss auf die Verkehrsnachfrage haben. Ich ziehe die folgenden drei Schlüsse  daraus für die Planung:

  1. Eine neue oder ausgebaute Strasse erhöht die Kapazität des Netzes und senkt den Widerstand, es auch zu nutzen.
  2. Es ist sehr gut möglich, dass die so erhöhte Attraktivität des Strassennetzes zu mehr (motorisiertem) Verkehr führt.
  3. Auf jeden Fall werden mit Ausbauten erst die Voraussetzungen geschaffen, damit der Verkehr wachsen kann.

Es spricht demnach vieles dafür, dass Strassenausbauten zumindest potentiell zu mehr Verkehr führen. Mit «flankierenden Massnahmen» kann dieser Effekt zwar reduziert werden. Dazu reichen die heute üblichen flankierenden Massnahmen aber kaum. Diese unterstützen zwar die Kanalisierung auf der ausgebauten Strasse oder der neuen Umfahrung, indem das Tempo reduziert und die Gestaltung verbessert wird. Um Mehrverkehr zu vermeiden, müssten aber bestehende Strassen im Gegenzug rückgebaut bzw. zugunsten von urbanen Verkehrsmitteln und des öffentlichen Raums umgenutzt werden. Wo die Grenzen solcher Stadtreparaturen durch Verlagerung von Durchgangsverkehr liegen und welche Rolle Verkehrsdrehscheiben oder Mobility-as-a-Service dabei spielen – dazu werde ich in späteren Beiträgen mehr schreiben.

Was uns diese andere Geschichte lehrt

Das Strassennetz in der Schweiz ist grundsätzlich gebaut, die Erreichbarkeit ist bereits hoch. Ein weiterer Ausbau ist kritisch zu sehen, weil die zusätzlichen Kapazitäten zu noch mehr Verkehr führen bzw. das Verkehrswachstum verstärken. Ein starkes Wachstum des motorisierten Individualverkehrs steht aber im Widerspruch zu den Verkehrsperspektiven des Bundes und zur Klimapolitik. Zudem stehen Ausbauten der Strasseninfrastruktur im Widerspruch zur Stossrichtung, die bestehende Infrastruktur effizienter zu nutzen – sei es durch Verkehrsmanagement oder über autonome Fahrzeuge.

Über punktuelle Ausbauten kann man diskutieren, aber dann sollte der ASTRA-Direktor auch den Mut haben, die ganze Wahrheit zu sagen: Ja, wir sind uns bewusst, dass ein Ausbau zu mehr Verkehr führen kann. Und ja, an diesen 2, 5 oder 10 Stellen in der Schweiz machen wir es trotzdem, weil wir damit in einem Ballungsraum Stadtreparatur betreiben möchten oder die Sicherheit erhöhen können. Aber eben auch: Ja, damit das nicht zu mehr Verkehr führt, planen und unterstützen wir jede noch so harte Massnahme, die ein solches unerwünschtes Wachstum verhindert. Und nein, wir beginnen nicht zu bauen, bevor wir alles getan haben, was diesbezüglich möglich ist. Diese klare Haltung wünsche ich mir vom Bund.

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