Planungsgeschichten

Ein Weg – zwei Geschichten

Die schon oft gehörte Geschichte

Hattet ihr im Dezember auch einen Weihnachtsbaum zu Hause? Für uns gehört eine geschmückte Tanne im Wohnzimmer einfach zu Weihnachten dazu. Aber wie kommt ein Gegenstand von der Grösse eines Baums vom Wald ins Wohnzimmer? Oft habe ich dazu schon diese Geschichte gehört: «Es ist gar nicht möglich, ohne Auto etwas so sperriges und schweres wie einen Weihnachtsbaum zu transportieren, ausser vielleicht du lebst mitten in der Stadt Zürich. Und ich habe auch nicht den ganzen Tag Zeit. Dafür braucht es nun mal Autos.» Zu anderen Jahreszeiten wird dieselbe Geschichte erzählt, anstelle von «Weihnachtsbaum» geht es dann um «Möbelstücke / Mineralwasser / Gartenerde / jeder Gegenstand schwerer als 5 kg».

Die etwas andere Geschichte

Wir kaufen unseren Weihnachtsbaum immer im Eichmatthof im benachbarten Weiler Hertenstein. Seit einigen Jahren besitzen wir kein eigenes Auto mehr und es gibt keine Busverbindung zwischen Freienwil und Hertenstein. So machten wir – meine Frau, ich und unserer jüngerer Sohn Mirco – uns am 4. Advent auf den gut 2 km langen Fussweg zum Eichmatthof. Kaum angekommen, waren wir von einem eher kleinen, schön gewachsenen Baum begeistert. Der traditionelle Kaffee mit Lebkuchen in der Kaffeestube fiel dieses Jahr wegen Corona aus und wir machten uns direkt auf den Rückweg, der Baum auf meinen Schultern. Mirco hatte grossen Spass daran, mich zwischendurch abzulösen, auch wenn die Tanne beinahe grösser war als er selbst. Nach einer guten Stunde waren wir glücklich und fröhlich wieder zuhause.

Warum ich diese andere Geschichte erzähle? Weil sie aus meiner Sicht anschaulich die Fehlüberlegungen der schon oft gehörten Geschichte widerlegt:

  • Warum soll es nicht möglich sein, im Alltag eine Distanz zu Fuss zurückzulegen, die wir in Freizeit und beim Sport spielend schaffen? Wir waren insgesamt ca. 4.5 km zu Fuss unterwegs, davon die Hälfte mit dem Baum. Jede Wanderung ist länger, aber auch wer joggen geht, wird häufig eine längere Distanz zurücklegen. Tatsächlich kann bereits ein etwas ausgedehnterer Stadtbummel in der Stadt Zürich 3 oder 4 km lang sein. Gut die Hälfte der Schweizer Bevölkerung wird zu den sportlich sehr aktiven Menschen gezählt, ein Viertel ist aktiv in einem Sportverein. Ich denke, dass viele dieser Menschen auch im Alltag mehr Besorgungen zu Fuss erledigen könnten – und das nicht nur in der Stadt: 10% der Autofahrten in der Schweiz sind kürzer als 1 km, 30% kürzer als 3 km und immer noch knapp die Hälfte ist kürzer als 5 km.
  • Natürlich wäre der Baum viel schneller bei uns im Wohnzimmer angekommen, wenn wir ein Mobility-Auto gemietet hätten. Wir brauchten zu Fuss etwa anderthalb Stunden, mit dem Auto wären wir wohl in einer halben Stunde zurück gewesen. Aber was wir da alles verpasst hätten! Die guten Gespräche, für die wir so viel Zeit hatten. Der Stolz von Mirco, dass er einen Baum selber tragen kann, aber auch seine komödiantischen Einlagen zu den verschiedenen Tragarten. Die Ruhe und Gelassenheit, mit der wir wieder zuhause ankamen. Wie Seneca sagte: «Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen.»
  • Klar, ein Tannenbaum kann richtig schwer sein. Und ja, natürlich hat das unsere Auswahl etwas eingeschränkt. Aber es gibt eben auch kleinere bis mittlere Bäume und auch die sehen geschmückt sehr schön aus. Das Auto hat so gesehen erst die Bedürfnisse geschaffen, die ohne es selbst gar nicht befriedigt werden können. Oder glaubt ihr, dass viele Menschen ohne eigenes Auto alle zwei Wochen 30 kg Mineralwasser kaufen würden, in der Schweiz mit ihrer hohen Trinkwasserqualität? Wohl kaum.

Die erste Geschichte kommt zum Schluss, dass wir das Auto für viele Aktivitäten zwingend brauchen. Meine zweite Geschichte zeigt, dass das nicht zwingend so sein muss. Sie zeigt zudem, dass es uns nicht Zeit kostet, zu Fuss (oder mit dem Velo) unterwegs zu sein, sondern dass wir Zeit gewinnen (nämlich für die körperliche Bewegung und für gemeinsame Zeit mit Freunden oder Familie). Wohlgemerkt: Es gibt Situationen, in denen ein Auto unbestritten sehr praktisch ist. Das sind diejenigen Situationen, in denen dafür der Begriff «Verkehrsmittel» angebracht ist – also das Auto als Mittel zum Zweck. Darüber hinaus sollten wir uns aber bewusst sein, dass Verkehrsmittel nicht neutral sind. Das Auto bzw. die Entwicklung des Strassennetzes haben einerseits unsere Raumstruktur geprägt, auch wenn diese Effekte bis heute noch nicht genau quantifiziert sind. Andererseits hat das Auto eigene Geschichten geschrieben, die ohne es gar nie möglich wären. Es ist unsere freie Entscheidung als Gesellschaft, neue Geschichten zu erzählen, von unterhaltsamen Fusswegen und gesunden, anregenden Velofahrten.

Diese Fragen sollten wir uns deshalb viel öfter stellen

Ist es sinnvoll, in der Freizeit joggen zu gehen oder ins Fitnesscenter zu fahren, und im Alltag einen Weg von mehr als 2 km Länge mit dem Auto zurückzulegen? Wie können wir als Planer*innen nicht nur Netze für den Fuss- und Veloverkehr planen, sondern zusätzlich neue Geschichten von einer anderen Mobilität erzählen?

  1. Was für eine schöne Weihnachtsgeschichte!

    Ich bin überzeugt, dass wir wieder lernen können, wirklich hin zu hören und zu verstehen, wenn wir wieder mehr Geschichten erzählen. Danke lieber Stephan!

    • Viktoria Herzog

      Cool! Vielleicht eine neuer Hashtag? #treeonfoot
      Oder nächstes Jahr #treebybike ausprobieren 🌲 viel Spass und weiter so 👍

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