Planungsgeschichten

Die Erreichbarkeit ist kein Spiel ohne Grenzen

Dieser Beitrag erschien in gekürzter Form in der NZZ vom 09.09.13.

Die Erreichbarkeit einer Region oder einer Gemeinde nimmt unter den Standortfaktoren eine herausragende Rolle ein. Kein Leitbild und kein Standortmarketing kommen ohne den Ruf nach einer besseren Verkehrsanbindung aus. Das hat Konsequenzen: Das Nationalstrassennetz soll ab 2014 um noch einmal 400 km erweitert werden, das Bahnnetz mit ZEB ausgebaut und verdichtet werden. Die Bereitstellung der erforderlichen Mittel gestaltet sich aber zunehmend schwierig: Gegen eine moderate Preiserhöhung der Autobahnvignette wird das Referendum ergriffen, die Tariferhöhungen der SBB werden regelmässig kritisiert. Offensichtlich sind wir als Steuerzahlende und Stimmvolk nicht bereit, die höhere Erreichbarkeit zu bezahlen, die wir als Verkehrsteilnehmende und Standortförderer erwarten. Zeit für die Frage: Was wollen wir wirklich erreichen?

Gemeinhin wird argumentiert, dass eine wachsende Erreichbarkeit zentral ist für unsere Volkswirtschaft. Der verstorbene ETH-Professor Martin Rotach hat allerdings bereits 1990 die These aufgestellt, dass der Grenznutzen einer wachsenden Erreichbarkeit abnimmt. Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat kürzlich am Berner Verkehrstag postuliert, dass wir in den postindustriellen Gesellschaften den „Peak Mobility“ bereits überschritten haben. Bringt uns die zunehmende Erreichbarkeit also gar keinen Gewinn mehr? Im Geschäfts- und Güterverkehr mag ein direkter volkwirtschaftlicher Nutzen aus den Reisezeitgewinnen realisiert werden. Im bedeutendsten Verkehrssegment, dem Freizeitverkehr, ist dieser Zusammenhang aber nicht evident. Resultiert in der kleinräumigen Schweiz noch ein volkswirtschaftlicher Nutzen, wenn eine Familie statt aus vier neu aus sechs Freibädern auswählen kann? Ökonomen argumentieren mit den empirisch aus Befragungen erhobenen Zahlungsbereitschaften der Verkehrsteilnehmenden, wonach eine Stunde Reisezeiteinsparung im Privatverkehr 23 Franken wert sei. Aber wäre der einzelne Verkehrsteilnehmende tatsächlich bereit, für eine Reisezeiteinsparung von 10 Minuten pro Arbeitstag durch die Beseitigung eines Engpasses – also ca. 50 Stunden pro Jahr – 1‘000 Franken pro Jahr aus dem eigenen Portemonnaie zu bezahlen?

Die Erreichbarkeit wird zudem nur partiell erhöht: Ein erheblicher Teil der geplanten Investitionen dient dem Kapazitätsausbau bestehender Strecken. Diese Investitionen schaffen keine neuen Verbindungen, sind vor allem in den Spitzenstunden (rund 20% des gesamten Verkehrs) wirksam und kommen vor allem den Pendlern zugute. Die Standortwahl beim Wohnen wird dadurch noch mehr vom Arbeitsort entkoppelt. Daraus resultieren eine grössere Verkehrsleistung und eine disperse Siedlungsentwicklung. Man kann die grösseren Wahlmöglichkeiten bei der Wohnstandortwahl begrüssen, ein positiver volkswirtschaftlicher Nutzen ergibt sich daraus kaum. Vor diesem Hintergrund sendet der Staat falsche Preissignale aus, wenn er über die Pendlerabzüge bei den Steuern just diejenigen Verkehrsteilnehmenden belohnt, die die Infrastruktur besonders intensiv nutzen und damit die bestehenden Engpässe verschärfen.

Die Erreichbarkeit nimmt denn in der politischen Diskussion auch selten den Stellenwert ein, den ihr Ökonomen und Planer beimessen: Viele Strassenbauvorhaben haben zum Ziel, die historisch durch die Ortskerne führenden Hauptverkehrsstrassen durch Ortsumfahrungen zu ersetzen. Von politischer Seite werden deshalb die mögliche Reduktion von Belastungen und die Erhöhung der Sicherheit betont. Bei der Beurteilung und Priorisierung der verschiedenen Umfahrungsprojekte wenden Kantone und Bund allerdings häufig volkswirtschaftliche Verfahren an, da diese (scheinbar) eine möglichst grosse Transparenz gewährleisten. Dabei spielen die schwer monetarisierbaren Entlastungseffekte eine geringe Rolle, den Ausschlag geben vielmehr die Nutzen durch die reduzierten Reisezeiten für den verlagerten Verkehr, deren volkswirtschaftlicher Wert wie gezeigt überschätzt wird. Die resultierende Lücke zwischen den eigentlich angestrebten lokalen Zielen und den zur Begründung hilfreichen, aber wenig relevanten übergeordneten Nutzen wird gerne hingenommen. Die durch die höhere Erreichbarkeit in benachbarten Räumen geschaffenen neuen Engpässe werden oft ignoriert, Folgeinvestitionen bleiben unberücksichtigt. Es ist fraglich, ob so die vorhandenen Mittel zielgerichtet eingesetzt werden.

Welche Herausforderungen ergeben sich aus dieser Ausgangslage? Erstens: Dringend nötig ist eine breit geführte Diskussion über das zweckmässige Mass an Erreichbarkeit, das finanzpolitisch realistisch, regionalpolitisch vertretbar und umwelt- und raumplanerisch verträglich ist. Dazu muss diskutiert werden, welche Erreichbarkeit mit welchen Folgekosten Verkehrsteilnehmende und Allgemeinheit wirklich finanzieren wollen. Dabei gilt es zu bedenken, dass bereits die Erhaltung und Erneuerung der bestehenden Infrastruktur jährlich erhebliche Kosten verursacht. Zweitens: Es sind Massnahmen zur Steigerung der Kostenwahrheit bzw. zur Einführung der Marktgesetze in der Mobilität wie Mobility Pricing vertieft zu prüfen. Es ist nicht ersichtlich, warum der Preis eines so zentralen Produktionsfaktors wie der Mobilität nicht mit steigender Nachfrage (z.B. in den Spitzenstunden) erhöht werden soll. Im Gegenzug sollen verzerrende fiskalische Instrumente (z.B. Pendlerabzug) abgeschafft werden. Drittens: Die Entscheidungsprozesse sind so zu gestalten, dass die Vor- und Nachteile einer höheren Erreichbarkeit vollständig und nachvollziehbar in die Beurteilung einfliessen. Viertens: Wir alle, Private wie Unternehmen, sind gefordert, unser eigenes Verhalten kritisch zu überdenken, um als Gesellschaft auch ohne immer grössere verkehrliche Erreichbarkeit weiterhin mobil und kompetitiv zu bleiben.

 

 

 

 

 

 

 

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