Planungsgeschichten

Modellierst Du noch oder entscheidest Du schon?

The Future - Next Exit

Prolog: Dialoge im Geheimdienst ihrer Majestät

Ich gestehe, ich schaue gerne James-Bond-Filme. Vor allem die schlagfertigen Dialoge gefallen mir. In Goldeneye sagt M nach der Zerstörung der Station Severnaya (und damit eines Teils von Goldeneye) gegenüber Bond, dass die Analysten des MI6 nicht davon ausgegangen seien, dass Oroumov ein Überläufer sein könnte. Darauf erwidert Bond rhetorisch:

Are this the same analysts who said Goldeneye couldn’t exist, who said the helicopter posed no immediate threat and wasn’t worth following?

Worauf M antwortet:

You don’t like me, Bond. You don’t like my methods. You think I’m an accountant, a bean counter, more interested in my numbers than your instincts.

An diesen Schlagabtausch wurde ich erinnert, als ich vor kurzem zwei Posts des Transportist zu Fantasy Modeling gelesen hatte. Der Blog wird von Professor Dr. David Levinson von der Universität Sidney geführt und inspiriert mich immer wieder von neuem (Tipp: Newsletter abonnieren). Ich werde zuerst die Aussagen der beiden Posts in aller Kürze zusammenfassen, bevor ich darauf eingehe, was wir daraus für die Zukunft der strategischen Verkehrsplanung und Modellierung auch in der Schweiz lernen sollten.

Modellprognosen – nicht genauer als ein Zufallsgenerator (?)

Levinson machte im ersten Post eine (vermutlich bewusst) provokative Aussage: Klassische Vier-Schritt-Verkehrsmodelle seien reine Phantasie. Deren Anwendung gehe von der Annahme aus, dass sich aus bisherigen Beobachtungen zum Mobilitätsverhalten, aber auch zur räumlichen Dynamik, die Gesetzmässigkeiten für jeden erdenklichen Zeitpunkt in der Zukunft ableiten liessen. Die Erfahrungen gerade der letzten Jahre (COVID) zeigten, dass diese Annahme falsch sei. Wenn wir heute versuchten, mit den Erfahrungen von gestern die Zukunft vorauszusagen, würden wir in einer sich schnell wandelnden Welt kaum je richtig liegen. Im Original:

So 2050 forecasts of travel demand are based on models estimated using 2010 surveys being run in the 2020s. These are no more likely to be correct within a reasonable margin of error than a random number generator.

Für Levinson sind Verkehrsmodelle deshalb gefährlich. Sie würden Entscheidungsträger zu falschen Entscheidungen verleiten. Insbesondere würden öffentliche Finanzmittel nicht effizient eingesetzt. Zudem könnten negative Auswirkungen von Infrastrukturprojekten auf die Umwelt unterschätzt werden. Schliesslich würden falsche Modellprognosen das Vertrauen der Gesellschaft in den Planungsprozess und die staatlichen Institutionen erschüttern. Verkehrsmodelle verkämen so zum wissenschaftlichen Feigenblatt, statt als ergebnisoffene Entscheidungsgrundlage zu dienen:

These large-scale [models] are either believed, to the detriment of all, or not believed but merely a kabuki-like, Potemkin-esque, box-ticking exercise to satisfy rules and regulations laid down in the name of scientism and used to justify the preferred actions of those in power, rather than to inform those actions in the first place.

Nicht ganz unerwartet hat dieser erste Post ziemlich viele (auch kritische) Reaktionen hervorgerufen. In einem zweiten Post hat Levinson deshalb einige Punkte präzisiert: Die Kritik richte sich primär gegen Prognosen für absurd lange Zeithorizonte (30-40 Jahre). Wir könnten schlicht nicht sagen, wie sich die Welt bis dann entwickle, solange wir es nicht erlebt haben:

But even if you get the models (…) right for today, and reduce the inaccuracy to an acceptable level, you still haven’t solved the computational irreducibility problem. We cannot know the future without living through it.

Auch agentenbasierte Verkehrsmodelle (z.B. MatSIM) könnten dieses Grundproblem nicht lösen. Eine der grossen Unbekannten bliebe die Entwicklung der räumlichen Nutzung (also wo Bevölkerung und Arbeitsplätze wachsen oder auch schrumpfen). Hingegen räumt Levinson ein, dass Verkehrsmodelle gute Instrumente sein können, um das Verkehrsgeschehen von heute (oder der nahen Zukunft) besser zu verstehen. Im weiteren Verlauf des Posts geht er auf detaillierte Reaktionen von Leser*innen seines ersten Posts ein, dabei ist mir vor allem sein folgendes Zitat zu den Grenzen komplexer Verkehrsmodelle in Bezug auf die Entscheidfindung aufgefallen:

But complexity and sophistication is not inherently a good thing in a model. Credibility comes off of success. Success comes from skill and luck.

Was ich daraus gelernt habe

Da sass ich nun als strategischer Verkehrsplaner, der immer wieder mal mit Verkehrsmodellen zu tun hat, und fragte mich: Was nun? Soll ich künftig noch Verkehrsmodelle anwenden? Müssen wir sie weiterentwickeln oder durch bessere Instrumente ersetzen? Und was heisst das für die Art, wie wir Entscheidungen in der Infrastruktur- und Mobilitätsplanung treffen?

Zuerst einmal erinnerten mich die Posts an meinen eigenen Weg. Als junger Planer wünschte ich mir vor 20 Jahren nichts mehr, als selber Verkehrsmodelle aufzubauen. Etwa zur gleichen Zeit wurden im Auftrag des ARE ex-Post-Analysen zu realisierten Infrastrukturen erstellt. Die Studien sollten unter anderem aufzeigen, wie sich grosse Ausbauten wie die S-Bahn Zürich oder der Vereinatunnel auf die räumliche und wirtschaftliche Entwicklung in ihrem Umfeld auswirken. Gemäss den Berichten war es häufig schwierig, die isolierten Wirkungen der neu gebauten Infrastruktur zu bestimmen, weil gerade die räumliche Entwicklung von sehr vielen Faktoren abhängen kann. Die Entwicklung von Raumnutzung und Mobilität sind eben komplizierter als naturwissenschaftliche Prozesse, weil neben Technik und Physik auch psychologische, soziale, politische und ökonomische Faktoren einen Einfluss haben. Deshalb greift die gelegentlich verwendete Analogie zwischen Verkehr und Wasser auch viel zu kurz. Heute frage ich mich deshalb: Warum glauben wir, künftige Entwicklungen und Entscheidungen vorhersagen zu können, wenn es uns nicht mal gelingt, die Wirkungen eines bereits realisierten Ausbaus auf den umliegenden Raum zu beschreiben? Dass Verkehrsmodellprognosen ihre Grenzen haben, habe ich auch in früheren Posts schon erläutert, z.B. hier, hier und hier.

Trotzdem spielen in der Schweiz Modellprognosen unverändert eine grosse Rolle in der Infrastrukturpolitik, werden aber weder in der Fachwelt noch in der Politik spürbar hinterfragt. Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion der Motion Hess (durchgehender 6-Spur-Ausbau A1) im Nationalrat: Dabei wurde der nötige Kapazitätsausbau auf der Strasse mit dem erwarteten Verkehrswachstum begründet, das sich in der Vergangenheit bereits abgespielt habe und deshalb in Zukunft unausweichlich fortsetzen werde. Das STEP Strasse mit der Prognose künftiger Engpässe auf Basis des VM-UVEK folgt einer ähnlichen Logik.

Die Modellprognose dient in diesen Fällen als Totschlagargument, um das Gespräch über viel relevantere Fragen zu unterbinden, zum Beispiel: Können wir uns in Zeiten von Klimawandel und anhaltendem Bevölkerungswachstum ein ungehindertes Wachstum des Autoverkehrs leisten? Ist ein Ausbau der Strassenkapazitäten kompatibel mit (teilweise vom Volk bestätigten) Beschlüssen zum Klimaschutz oder zur Innenentwicklung? Was ist für die Wirtschaft schlimmer: Wenn wir mit Anreizen und Preissignalen Verkehr vom Auto auf ÖV sowie Fuss- und Veloverkehr verlagern oder die zunehmenden Staus, die das ungebremste Autoverkehrswachstum auch mit Ausbauten unweigerlich mit sich bringen wird? Und gibt es disruptive Entwicklungen (wie zuletzt die Covid-Pandemie), die Mobilität und Verkehr komplett verändern können?

Hier sehe ich eine grosse Verantwortung für uns als Planer – den Entscheidungsträger*innen, der ganzen Gesellschaft und uns selbst gegenüber. Weil wir den Anspruch haben (sollten), dass unsere Arbeit klare und neutrale Grundlagen liefert, um gute, zukunftsfähige Entscheidungen zu treffen. Dazu brauchen wir keine Instrumente, die nur die Entwicklung der letzten Jahre extrapolieren und bei denen der Wert auf (Schein-)Genauigkeit liegt. Vielmehr sollen brauchbare Modelle Antworten auf die Unwägbarkeiten unserer Welt geben – in Bezug auf Wachstumsprognosen, aber auch in Bezug auf gesellschaftliche, technologische, geopolitische und (last but not least) klimapolitische Entwicklungen.

Modell(e) für die Zukunft: Einfachere Instrumente und mehr Mut

Also keine Verkehrsmodelle mehr? Bevor meine guten Kolleg*innen aus dem Verkehrsmodellsektor nun in Schnappatmung verfallen: Nein, wir brauchen auch künftig Verkehrsmodelle. Sie sind sehr nützlich, um das heutige Verkehrsgeschehen zu verstehen. Für die Prognose brauchen wir aber meines Erachtens neue Ansätze. Diese sollen es ermöglichen, einfach Zusammenhänge und verschiedene Szenarien zu testen und damit Zusammenhänge zu erklären, statt nur Daten zu liefern. Damit sie die strategische Infrastrukturplanung unterstützen können, müssen die Resultate anschaulich aufbereitet und laienverständlich kommuniziert werden – eine zentrale Aufgabe für uns Planende. Wir sollten die verwendeten Modellauswertungen verstehen (was heute leider auch nicht immer der Fall ist) und interpretieren können.

Noch mehr sollten wir aber den Entscheidungsträger*innen klar machen, dass Mobilitätsplanung kein datengesteuerter Deus ex Machina ist: Die richtigen Lösungen fallen uns nicht automatisch vor die Füsse, indem wir die Zukunft möglichst genau vorhersagen. Wir finden sie, indem wir die aufgrund unserer (auch langfristigen) Zielsetzungen und Werte besten Mobilitätslösungen in einem bestehenden Raum und für heute entwickeln – und uns dann überlegen, wie gut diese in unterschiedlichen Entwicklungsszenarien funktionieren. Es braucht Mut, diesen fixen Anker einer bestimmten, klar definierten Modellprognose loszulassen. Aber hey, das Leben braucht Mut. Dafür haben wir mehr Freiraum, die für uns als Gesellschaft richtigen Lösungen zu gestalten, was erfolgreiche Strukturen auszeichnet. Ganz in diesem Sinne schliesse ich diesen Post mit einem letzten schönen Zitat von David Levinson ab:

Startups are funded based on hope, some expectations of founder experience, and a good pitch, not actual forecast numbers. Why should new build infrastructure be much different?

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