Planungsgeschichten

Zeit ist Geld – oder etwa nicht?

Das meiste haben wir gewöhnlich in der Zeit getan, in der wir meinten, zu wenig zu tun. (Marie von Ebner-Eschenbach)

Wenn man zwei Stunden lang mit einem Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man jedoch eine Minute auf einem heißen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden. Das ist Relativität. (Albert Einstein)

Die schon oft gehörte Geschichte

Ökonomisch scheint Planung einfach: Eine neue Verkehrsinfrastruktur lohnt sich, wenn die volkswirtschaftlichen Nutzen grösser sind als die Kosten. Ein zentraler Nutzen ist dabei der Wert der Reisezeit: Wenn eine Person weniger lang im Verkehr unterwegs ist, dann spart sie Zeit, die sie für andere Aktivitäten nutzen könnte. Die eingesparte Zeit ist deshalb aus ökonomischer Sicht Geld wert, sie wird in Kosten-Nutzen-Analysen darum monetarisiert.

Zugrunde liegen dabei sogenannte «Zeitkostensätze». Sie bilden ab, wie viel eine gesparte Stunde oder Minute Fahrzeit wert ist. Dazu werden einer statisch relevanten Zahl von Menschen verschiedene Alternativen für eine Reise vorgelegt. Die Alternativen sind detailliert beschrieben, zum Beispiel so:

Nach den Befragungen wird ausgewertet, für welche Alternativen sich die Menschen entschieden haben. Daraus lässt sich statistisch ermitteln, welchen Einfluss die einzelnen Attribute (z.B. Reisezeit) auf die Entscheidung hatten. Vereinfacht gesagt: Wenn viele Menschen ÖV-Wege ohne Umsteigen wählen, ist die Umsteigehäufigkeit besonders relevant und hat ein hohes Gewicht bei der Entscheidung. Wählen sie mehr Wege mit einer kurzen Fahrzeit, weist das auf einen hohen Wert von Zeitersparnissen hin. Setzen wir die Werte für die Reisezeit ins Verhältnis zu den tatsächlichen Ausgaben (z.B. für Parkgebühren, Treibstoffkosten, Ticketpreisen, etc.), lässt sich beispielsweise der Gegenwert einer eingesparten Stunde Fahrzeit ermitteln. Damit erhält man die Zeitkosten.

Tönt technokratisch? Ist es auch – und dennoch bilden diese Überlegungen die Basis bei zahlreichen Infrastrukturentscheidungen in der Schweiz wie im Ausland. Der Ansatz geht davon aus, dass der Mensch als homo oeconomicus funktioniert und immer die Variante wählt, die sich für ihn am meisten «lohnt». Und dabei spielt die Reisezeit eine zentrale Rolle: Nach meinen eigenen Erfahrungen ist der Wert der ermittelten Reisezeitgewinne über die gesamte Lebensdauer praktisch immer deutlich höher als die Baukosten. Anders gesagt: Der Bau einer neuen Strasse oder Tramlinie lohnt sich ökonomisch nur schon wegen der Zeit, die die Menschen sparen. Am Ende dieses Beitrags habe ich zur Erläuterung ein typisches Beispiel durchgerechnet.

Die andere Geschichte

Aber funktionieren wir Menschen wirklich so? Kann der Wert unserer Zeit eindeutig in Franken ausgedrückt werden? Wenn ich nach «Wert der Zeit» im Netz suche, zeigt mir die bekannteste Suchmaschine einen schrägen Mix aus rechtskatholischen Websites wie gloria.tv oder jesus.ch einerseits und esoterisch angehauchten Ratgeberseiten andererseits. Ist der Wert der Zeit also gar keine volkswirtschaftliche Grösse, sondern Teil einer (Ersatz-)Religion? Das wohl nicht – und doch ist der Nutzen der Zeit vielschichtiger, als er heute in Bewertungsverfahren zum Einsatz kommt. Eine Spurensuche.

Wem der Zeitnutzen nützt – und wem nicht

In einem lesenswerten Artikel im Online-Medium Republik hat Daniel Binswanger kürzlich auf die Entgrenzung von Preis und Wert hingewiesen: Die Marktwirtschaft hat sich zunehmend zu einer Marktgesellschaft gewandelt, in welcher der «Wettbewerbs­gedanke nicht mehr bloss ein Mechanismus ist, um das gesellschaftlich Gewünschte wirtschaftlich möglichst effektiv herbei­zuführen, sondern […] sich verselbst­ständigt hat.» Nach der klassischen Ökonomie liegt der Wert von Gütern in der für die Herstellung erforderlichen Arbeit und damit auch in der dazu nötigen Arbeitszeit. Der neoklassische Ansatz sieht den Wert eines Gutes nur noch im subjektiven Urteil der Konsument*innen – eben der Zahlungsbereitschaft, wie sie auch den Zeitkostensätzen zugrunde gelegt werden. Damit unterschlagen wir, dass nicht alle Reisezeitgewinne tatsächlich nützlich sind:

  • Im Geschäftsverkehr ist der Wert von Zeitgewinnen eindeutig und entspricht der klassischen Definition. Wenn der Handwerker weniger Zeit für seine Fahrt zu Kunden benötigt, kann er innerhalb eines Tages für mehr oder weiter entfernte Kunden tätig sein.
  • Aber ist eine Stunde Zeitgewinn im Freizeit- und Einkaufsverkehr volkswirtschaftlich wirklich ähnlich viel wert? Ich selbst bin natürlich froh, wenn ich schneller an meinem Ferienort ankomme und dort mehr Zeit verbringen kann. Aber ist das auch ein Nutzen für alle, und zwar einer, der sich in Franken ausdrücken lässt?

Einige werden einwenden, dass die Zahlungsbereitschaften deshalb auch nach Verkehrszwecken differenziert werden. Auch dann stellt sich die Frage, ob die Bereitschaft real ist, für eingesparte Zeit zu bezahlen. Und damit komme ich zum nächsten Punkt.

Her mit dem Zeitnutzen – aber bitte gratis

Heute müssen wir für die Zeit im Verkehr nicht zahlen: Für den Ticketpreis im ÖV ist die Distanz relevant und nicht die Geschwindigkeit oder die nötige Zeit für die Fahrt. Auch im Auto spielt die Zeit kaum eine Rolle – mal abgesehen davon, dass der Treibstoffverbrauch leicht höher ist, wenn ich schneller fahre. Wären Menschen bereit, für weniger Fahrzeit zu bezahlen, wie das die Zahlungsbereitschaft bzw. die Zeitkostensätze unterstellen? Nehmen wir an, eine Auto-Pendlerin aus dem Aargau mit Arbeitsort im Glattal verliert heute am Gubrist 5 Minuten pro Weg bzw. 10 Minuten pro Werktag (was noch eher wenig ist). Das wären dann 40 Stunden pro Jahr, die sie anders hätte nutzen können. Mit einem für den Pendlerverkehr typischen Zeitkostensatz von 30 Franken pro Stunde wäre diese verlorene Zeit 1’200 Franken pro Jahr wert. Wäre die Pendlerin tatsächlich bereit, jedes Jahr so viel zu bezahlen, um diesen Stau zu vermeiden, nur weil sie dadurch Zeit gewinnt? Falls ja, wäre eine der grössten Baustellen der Schweizer Verkehrspolitik – die künftige Verkehrsfinanzierung – auf einen Schlag gelöst. Wenn ich daran denke, dass vor wenigen Jahren nur schon eine Erhöhung der Gebühr für die Autobahnvignette von 40 auf 100 Franken pro Jahr wuchtig abgelehnt wurde, habe ich allerdings erhebliche Zweifel.

Zeitgewinne sind kein ökonomisches Perpetuum mobile

Niemand bestreitet, dass der Ausbau der Verkehrsnetze in der Vergangenheit positive Effekte auf die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes hatte. Aber gilt das auch in Zukunft? Ist jeder zusätzliche Zeitgewinn wirtschaftlich bedeutsam? Wie oben beschrieben liegt in praktisch allen volkswirtschaftlichen Analysen der Wert der Reisezeitgewinne höher als die Investitionskosten, meistens um Faktor 2 oder mehr. Bedeutet das nun, dass alle Firmen und Bewohner in der Schweiz stinkreich würden, wenn wir einfach nur immer weiter Strassen bauen? Oder ist es – wie ich bereits in einem früheren Beitrag geschrieben hatte – nicht eher so, dass die Erreichbarkeit auch einen Grenznutzen hat und das deshalb auch der Wert von Zeitgewinnen abnimmt?

Wir messen Zeitgewinne und wollen eigentlich Entlastung

Einige Infrastrukturprojekte werden auch heute noch gebaut, um Zeit zu gewinnen – zum Beispiel indem Staus kürzer werden. Dabei geht oft vergessen, dass neu geschaffene Kapazitäten gerade auf der Strasse schnell aufgebraucht sind, wie ich in einem früheren Beitrag gezeigt habe. In der Regel sollen Ausbauten heute aber ohnehin die Bevölkerung entlang von stark befahrenen Strassen vom Verkehr entlasten. Das gilt sowohl für Strassen (Umfahrungen, Engpassbeseitigung) als auch für den ÖV (höhere Kapazitäten, um mehr Menschen vom Auto auf das Tram oder die Bahn zu bringen). Das Paradox der meisten Kosten-Nutzen-Analysen ist, dass die Menschen eigentlich weniger Verkehr in den Ortschaften wollen, wir Planer das aber mit den gar nicht angestrebten Reisezeitgewinnen auf einer neuen Strasse oder in einem anderen Verkehrsmittel begründen. Warum beurteilen wir nicht einfach, was die Menschen wollen?

Die Pointe mit dem Veloverkehr

Bisher gibt es erst wenige Kosten-Nutzen-Analysen für Veloinfrastrukturen, bei einer der ersten in der Schweiz habe ich massgebend mitgewirkt. Und dabei erscheint die hohe Bedeutung des Zeitwerts so richtig paradox: Die Fahrzeit mit einem Velo mag in Städten teilweise kürzer sein als diejenige mit Auto oder ÖV. In Agglomerationsräumen wie dem Limmattal dauert die Fahrt mit dem (muskelbetriebenen) Velo dagegen meistens länger. Mit einer neuen attraktiven Veloverbindung werden trotzdem Menschen von Auto und Bus aufs Velo umsteigen – auch wenn sie dadurch mehr Zeit brauchen. Streng nach Theorie entstehen dadurch volkswirtschaftliche Kosten durch Zeitverluste – und die wiegen rein ökonomisch schwerer als die monetarisierten Nutzen für Umwelt, geringere Unfallkosten und Gesundheit . Richten diese Menschen wirklich einen volkswirtschaftlichen Schaden an? Oder treffen sie vielmehr eine selbstbewusste Entscheidung, für ihre Mobilität etwas mehr Zeit einzusetzen und damit gleichzeitig noch etwas für die Umwelt und ihre Gesundheit zu tun? Und warum sollen wir Zeitgewinne oder -verluste als externe Effekte vollständig berücksichtigen, während der positive Effekt des Veloverkehrs auf die Gesundheit primär als individueller Nutzen betrachtet und nur in geringem Masse als volkswirtschaftlicher Nutzen einbezogen wird?

Der Peak Travel Time ist erreicht

Angesichts der wirklich wichtigen Herausforderungen der Zukunft sollten wir  zusätzlichen Zeitgewinnen keinen hohen Wert mehr beimessen. Das gilt ganz besonders für die kleinräumige und bereits sehr gut erreichbare Schweiz. Wir streben Innenentwicklung und die Stadt der kurzen Wege an. Wir erleben, wie sich Arbeit wandelt und (wohl auch nach der Pandemie) immer mehr Menschen von zuhause aus arbeiten – also die Reisezeit auch ohne Infrastrukturausbau reduzieren. Und wenn wir Klimaneutralität auch im Bereich Mobilität bekämpfen wollen, dann sollten wir keine Instrumente mehr nutzen, die geringere Reisezeiten belohnen – und damit zu mehr Verkehr führen. Wann der Peak Oil erreicht ist, ist umstritten – der Peak Travel Time ist aber sicher erreicht.

Diese Fragen sollten wir uns deshalb viel öfter stellen

Wollen wir  unser Verkehrssystem von Morgen anhand von Instrumenten von Gestern planen? Oder brauchen wir geeignetere oder zumindest optimierte Methoden für eine Mobilität in Zeiten von New Work und Klimawandel, die nicht Geschwindigkeit und Kapazitätsausbau ins Zentrum stellt, sondern eine zweckmässige Erreichbarkeit?

——————————

Hier wie oben versprochen ein einfaches Beispiel zur Erläuterung der hohen Bedeutung der Reisezeitgewinne: Nehmen wir eine Autobahn mit 2 Spuren pro Richtung. Morgens zwischen 7 und 8 Uhr fahren 4’000 Fahrzeuge in einer Richtung. Das ist sehr viel Verkehr und bringt den Abschnitt an die Kapazitätsgrenze, wie ich in einem früheren Beitrag aufgezeigt habe. Der Verkehr staut sich. Gehen wir mal davon aus, dass jedes Auto 5 Minuten länger braucht als ohne Stau, und dass insgesamt 4’500 Menschen betroffen sind (in einigen Autos sitzt mehr als eine Person). Der Stau verursacht also an einem einzigen Morgen einen «Zeitverlust» von 375 Stunden. Gehen wir davon aus, dass das an jedem Werktag passiert, also rund 250 Tage pro Jahr. Dann resultieren über ein ganzes Jahr 93’750 Stunden. Setzt man nun gemäss SN 41 822a einen Zeitkostensatz von rund 30 Franken pro Stunde ein (der Wert für Pendlerverkehr liegt höher als der durchschnittliche Wert), so verursacht der Stau jährliche «Kosten» von rund 2.8 Mio. CHF. Gehen wir mal davon aus, dass abends zwischen 17 und 18 Uhr dieselbe Situation in Gegenrichtung auftritt. Dann verdoppeln sich die Kosten auf 5.6 Mio. CHF pro Jahr. Gehen wir davon aus, dass ein Ausbau diese Staus vollständig eliminieren kann und dass die Baukosten über 30 Jahre amortisiert werden. Weil die vorangehend Reisezeitverluste jedes Jahr während der Amortisation wegfallen, bringt die Massnahme einen volkswirtschaftlichen (Reisezeit-)Gewinn von beinahe 170 Mio. CHF. Das bedeutet, dass eine Massnahme mit gleich hohen Kosten sich nur schon wegen des Wertes der Reisezeitgewinne rentiert. Für diesen Betrag kann man je nach Geologie einen zweispurigen Tunnel von 1 bis 4 km Länge bauen oder eine oberirdische Autobahn auf einer Länge von 6-8 km auf 2×3 Spuren erweitern.

Schreiben Sie eine Antwort