Am 24. November 2024 stimmen wir über den Ausbauschritt 2023 für die Nationalstrassen ab. Knapp 350 Fachpersonen aus der Mobilitäts- und Verkehrsplanung haben einen Appell gegen diese Vorlage unterschrieben. Ich gehöre dazu. Nachfolgend lege ich meine persönlichen Gedanken zu den Nachteilen dieser Vorlage dar.
Mit sechs Ausbauprojekten möchte der Bund auf dem Nationalstrassennetz Engpässe beseitigen, Staus reduzieren und Siedlungsgebiete entlasten. Das alles soll aus Sicht des Bundes und des Komitees «Ja zur Sicherung der Nationalstrassen» zu einer effizienten und sicheren Verkehrsinfrastruktur führen.
Können diese Ziele durch den geplanten Ausbau erreicht werden?
Nein.
Und warum nicht?
Weil der Bund und die Befürworterinnen und Befürworter gleich mehrere Grenzen des Strassenausbaus ignorieren. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, da die Mehrzahl der befürwortenden Stimmen aus zwei Parteien stammen: Einer, für die starke Grenzen schon immer sehr wichtig waren. Und aus einer, die dieses Thema neu für sich entdeckt hat.
Aber zurück zu den Grenzen im Zusammenhang mit dem Strassenausbau.
Grenzen des Verkehrsmittels Auto
Das Auto ist ein sehr praktisches Verkehrsmittel. Wer eines hat, kann individuell zu einem frei gewählten Zeitpunkt über eine frei gewählte Route überall hin gelangen. Das erklärt, warum gerade in den Spitzenzeiten in beinahe jedem Auto nur eine Person sitzt. In ländlichen Räumen funktioniert das problemlos. In den urbanen Räumen wollen aber die meisten ins Zentrum – und da verstärkt der Autoverkehr seine eigene Ineffizienz. Je mehr Autos unterwegs sind, desto weniger schnell kommen sie voran. Die Städte wollen deshalb nicht mehr Autoverkehr. Nicht nur wegen der negativen Auswirkungen wie mehr Lärm und Unfällen. Sondern auch, weil mit dem Auto gar nicht alle Menschen in die Zentren fahren könnten. Die 6 Ausbauprojekte sind alle in städtischen Räumen, aber können dieses Problem nicht lösen. Zwar würden mehr Autos auf den Autobahnen fahren, aber die Menschen möchten nicht zu Raststätten und Autobahnanschlüssen, sondern in die Innenstädte. Dazu sind öV und Velo besser geeignet: Ihre Effizienz steigt im Gegensatz zum Auto sogar, wenn sie mehr genutzt werden.
Grenzen der Entlastungswirkung
Der Bund und die Unterstützenden der Vorlage versprechen, dass durch den Ausbau der Autobahnen Siedlungsgebiete entlastet werden. Das hat in der Vergangenheit oft gut funktioniert: Die historisch gewachsenen Hauptverkehrsstrassen führten mitten in die Zentren, die (damals) weit ausserhalb der Stadt verlaufenden Autobahnen nahmen den Durchgangsverkehr auf und entlasteten so die Hauptstrassen in vielen Städten. Weil die Städte als Ziel in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger wurden, hat aber primär der Quell-/Zielverkehr zugenommen. Der eigentliche Durchgangsverkehr macht heute nur einen sehr geringen Anteil des Verkehrs auf den Autobahnen aus, dafür würden die bestehenden Kapazitäten problemlos reichen. In den städtischen Räumen bringen Ausbauten deshalb keine zusätzlichen Entlastungen mehr. Im Gegenteil: Um die Autobahnanschlüsse nimmt der Verkehr sogar zu, z.B. beim Fäsenstaubtunnel Schaffhausen.
Auf den Autobahnen selbst erzeugen die Ausbauten mehr Verkehr und führen schon seit 30 Jahren nur noch zur Verschiebung der Engpässe: Mit der 3. Röhre wurde der Engpass am Baregg kurzfristig beseitigt, dafür wurde der Gubrist komplett überlastet. Nun wird dort bald die Kapazitätserweiterung abgeschlossen. Es ist jetzt schon klar, dass dadurch der Stau am Baregg und im Glattal wieder stark zunehmen wird. Um dem zu begegnen, wird schon über die (unterirdische) Glattalautobahn und einen erneuten Ausbau am Baregg nachgedacht. Die logische Konsequenz wäre dann, dass in einigen Jahrzehnten der Gubrist wieder überlastet ist.
Grenzen der Wirtschaftlichkeit
In der politischen Diskussion wird argumentiert, dass die Nationalstrassenausbauten für die Wirtschaft zentral sind. Um diesen volkswirtschaftlichen Beitrag zu ermitteln, lässt der Bund Kosten-Nutzen-Analysen erarbeiten. Zentral sind dabei die angewandten Kostensätze für Nutzen und Schäden der verschiedenen Verkehrsmittel. In jüngster Vergangenheit wurde – im Auftrag des Bundes – in einer Studie gezeigt, dass der Wert von Reisezeitgewinnen für den Autoverkehr bisher in Kosten-Nutzen-Analysen massiv überschätzt wurde. Ich habe das bereits in einem früheren Blogbeitrag vermutet. Der Bund hat diese neue Zeitkostenstudie bisher nicht publiziert. Veröffentlicht wurde dagegen die neue Studie zu den externen Kosten und Nutzen des Verkehrs. Diese zeigt, dass die Klimakosten des Autoverkehrs bisher massiv unterschätzt wurden und gut 3 Mal so hoch sind wie bisher angenommen. Gemäss derselben Studie wurde der volkswirtschaftliche Nutzen des Veloverkehrs deutlich unterschätzt. Zusammen bedeutet das, dass in den Kosten-Nutzen-Analysen für die sechs Ausbauprojekte deren Nutzen deutlich überschätzt und die Kosten unterschätzt wurden. Es ist fraglich, ob die vorgeschlagenen Ausbauten vor diesem Hintergrund noch wirtschaftlich sind. Der Bund müsste dazu seine Berechnungen aktualisieren und die Ergebnisse öffentlich machen. Trotz der hohen Investitionen hat er das nicht getan.
Grenzen des Allgemeingutes
Für viele Akteure in Politik und Wirtschaft ist eine uneingeschränkte (Auto-)Mobilität ein Service public. Staus werden nicht als Symptom einer zu hohen Nachfrage angesehen, sondern als Staatsversagen, das die Wirtschaft behindert. Aber ist Mobilität ein öffentliches Gut, welches keinen Marktgesetzen folgen muss? Wie zum Beispiel die äussere oder innere Sicherheit oder der Justizvollzug? Nein. Mobilität ist ein normaler Wirtschaftszweig, der andere Wirtschaftszweige beeinflusst. Eine zunehmende Erreichbarkeit durch Ausbauten erhöht zum Beispiel Immobilienpreise und beeinflusst die Standortwahl von Unternehmen und Privathaushalten. Wenn wir das nicht akzeptieren, nehmen wir ein Marktversagen in Kauf. Autofahrende, die auf kurze Reisezeiten angewiesen wären (z.B. Handwerker, Camionneure, etc.) erleiden Verluste wegen Staus, die nur entstehen, weil zu viele andere Autofahrende ohne wirklichen wirtschaftlichen Nutzen auf denselben Strassen fahren. Statt aufgrund der zu hohen Nachfrage die Preise zu erhöhen und damit der marktwirtschaftlichen Logik zu folgen, finanzieren wir mit dem geplanten Nationalstrassenausbau ein grösseres Angebot, obwohl viele Fahrten gar keinen Gewinn für die Wirtschaft bringen. Das ist ungefähr so sinnvoll wie wenn ein Gastronom akzeptiert, dass nicht zahlende Gäste seine Tische blockieren, so dass seine zahlenden Stammgäste nicht mehr bei ihm essen und trinken können.
Grenzen unseres Planeten
Der menschengemachte Klimawandel ist Realität. Wir haben bereits mindestens 5 der 9 planetaren Grenzen überschritten und die Folgen spüren wir unterdessen auch in der Schweiz. Während wir bei Gebäuden und in der Industrie Fortschritte machen, bleibt der Verkehr unverändert der grösste Klimasünder. E-Autos werden das Problem entschärfen, aber sie lösen es nicht. Als Gesellschaft wissen wir, dass der Autoverkehr Probleme schafft, aber wir sind bisher nicht bereit, unser Verhalten zu ändern. Wir brauchen dringend eine neue Vorstellung von Mobilität, in welcher Autos durchwegs mit alternativen Antrieben unterwegs sind und insgesamt eine geringere Rolle spielen als heute.
Fazit
Alle diese Gedanken sind nicht neu. Sie liegen Sach- und Richtplänen sowie Gesetzen zugrunde, die Bund, Kantone und Städte in den vergangenen Jahrzehnten verabschiedet haben. Der politische Auftrag für eine Reduktion oder zumindest eine Plafonierung des Autoverkehrs ist da. Strategie ist aber nicht, was wir sagen, sondern was wir tun. Wir haben und brauchen ein gut ausgebautes Strassennetz. Wir müssen diese Kapazitäten aber künftig noch effizienter nutzen, damit sich mehr Menschen darauf bewegen können und nicht mehr Fahrzeuge. Die Aufgaben sind gerade in den städtischen Räumen riesig: Konsequente Innenentwicklung und 10-Minuten-Stadt, klimagerechte Stadt, Ausbau öV, Umsetzung des Veloweggesetzes, Förderung von Verkehrsdrehscheiben, Elektrifizierung des Verkehrs, Digitalisierung. Wenn mit diesen Massnahmen weniger Menschen mit dem Auto unterwegs sind, hilft das auch dem gewerblichen Verkehr, der auf das Auto angewiesen ist. Ein Ausbau des Nationalstrassennetzes im Sinne einer «rollenden Planung» löst dagegen die Probleme nicht, sondern schafft neue und behindert die Umsetzung der zweckmässigen Lösungen.
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