Die schon oft gehörte Geschichte
Am zweiten Tag nach dem grossen Schneefall ist der Kühlschrank leer. Der Einkaufszettel wird etwas länger und vielseitiger, ich muss also ins Nachbardorf statt in den Laden vor der Haustüre. Vor dem Haus überlege ich mir noch kurz, für die knapp 2 km das Velo zu nehmen. Ich gehe dann doch zu Fuss – zum Glück, wie sich bereits nach 200 m zeigt…
Nun ist ja Winter und es schneite stärker als üblich. Aber dennoch war das Signal an diesem Tag eindeutig: (Schnee-)Freie Fahrt für Autofahrende, winterlicher Hindernisparcours inkl. Zeitverlust für die Velofahrenden.
Die wärmere Version davon erlebte ich letzten Sommer, als ich bei dieser Baustelle als Velofahrer buchstäblich aus der Bahn geworfen wurde.
Zusammen mit der Strassensanierung wurde hier übrigens unterdessen die Situation für den Veloverkehr leicht verbessert. Während der mehrmonatigen Bauzeit wurde uns Velofahrer*innen allerdings klar signalisiert: Hier ist die Fahrt für dich zu Ende, wir brauchen den verbleibenden Platz für das Auto. Ja, es gab eine Umleitung: Mit abschnittsweise rund 20 Steigungsprozenten über unbefestigte Wege. Würde man eine vergleichbare Umleitung den Autofahrer*innen zumuten, würde der Volkszorn in Online-Portalen überkochen und die zuständigen Beamten würden mit dem Benzinschlauch an der nächsten Tankstelle erdrosselt.
Manche mögen nun erwidern, dass ich das Velo in den beiden Situationen auch hätte stossen können. Klar, einen «Weg» gibt es immer, selbst wenn der Veloweg vorübergehend ausser Betrieb genommen wird. Velofahrer*innen sind sich gewohnt, dass ihr eigener Weg plötzlich nicht mehr existiert und dass sie unmissverständlich aufgefordert werden, auf eine andere Verkehrsfläche (Strasse, Trottoir) auszuweichen, wo fahrende Velos maximal geduldet sind. Für Autofahrer*innen ist diese Situation seltener, da fällt vielleicht einmal eine Spur weg, aber kaum je eine ganze Verbindung.
Wenn wir für den Veloverkehr planen, höre ich oft, das Potential für mehr Velofahrende sei ja gering, erst recht im Winter. Nun ja, solange der Winterdienst derart eindeutige Signale aussendet wie nach dem Schneefall Anfang Jahr oder bei der Baustelle letzten Sommer – immerhin beides kantonale Velorouten – muss sich auch niemand wundern, dass sich das Aufkommen in Grenzen hält.
Die andere Geschichte
Es ginge auch anders. Nämlich mit klaren Signalen zugunsten von mehr Veloverkehr – übers ganze Jahr. Beispiele gibt es viele. In Kopenhagen werden die Velowege mit hoher Priorität vom Schnee geräumt – und die Menschen fahren weiter Velo. Ganzjährig gibt es als Bonus noch auf die Velofahrenden ausgerichtete Abfalleimer dazu. Die Botschaft ist klar: Wir wollen, dass ihr Velo fährt.
Die Corona-Krise haben verschiedene Städte genutzt, um mit Pop-Up-Radwegen schnelle Verbesserungen für den Veloverkehr zu realisieren – die (Deutsch-)Schweizer Städte haben die Chance leider mehrheitlich verpasst. Ja, mancherorts mussten diese temporären Anlagen unter dem politischen Druck leider schon wieder abgebaut werden – aber ein Zeichen gesetzt haben sie trotzdem. In Deutschland wird derweil die Entwicklung und Vermittlung von velospezifischem Fach-Know-How vorangetrieben – mit der ersten Veloverkehrsprofessur. Weitere sieben Lehrstühle sollen folgen.
Ein schönes Beispiel in der Schweiz ist die Arbeit der Fachstelle Veloverkehr des Kantons Zürich. Neben der Umsetzung des kantonalen Velonetzplans und der Planung von Veloschnellrouten veröffentlichen sie regelmässig «Velogeschichten» – zuletzt über das Velofahren im Winter. Die Stadt Bern möchte zur «Velo-Hauptstadt» werden – und dabei den prozentualen Anteil des Veloverkehrs am Gesamtverkehr bis 2030 auf 20% verdoppeln.
Wenn ich selbst noch ein Kapitel zu dieser anderen Geschichte beitragen könnte, dann wäre es ein provokatives: Wie wäre es, wenn wir beim nächsten Schneefall zuerst die Trottoirs und Velowege vom Schnee befreien? Und den (oft vierradangetriebenen) Autolenker*innen den Artikel 32 des Strassenverkehrsgesetzes ans Herz legen, wonach die Geschwindigkeit immer den Strassenverhältnissen anzupassen ist? Wie wäre es, wenn die Strasseneigentümer bei der Sanierung einer Strasse immer zuerst die direkte und störungsfreie Veloverkehrsführung während der Bauphasen sicherstellen und sich erst dann die Frage stellen, wie die Autofahrer*innen geführt werden? Ich weiss, ich höre jetzt schon die Erwiderung «Wer zahlt denn die Strassen mit den Motorfahrzeugsteuern? Etwa die Velofahrer?!». Meine differenziertere Antwort darauf bringe ich zu einem späteren Zeitpunkt in einem neuen Post. Fürs erste nur dies: Eine Velofahrerin, die auch im Winter darauf vertrauen kann, dass sie eine sichere und zuverlässige Verbindung hat, wird eher bereit sein, dauerhaft mit dem Velo unterwegs zu sein statt wie bisher mit dem Auto – und jeder Mensch, der vom Auto aufs Velo umsteigt, ist dann das ganze Jahr über eine Person weniger, die die Staus verursacht, unter denen alle Autofahrenden so leiden…
Diese Fragen sollten wir uns deshalb viel öfter stellen
Kann es Eier (mehr Velofahrer*innen) geben, wenn es noch gar kein Huhn (eine durchgängige, zuverlässige Veloinfrastruktur) gibt? Können wir das Potential des Veloverkehrs überhaupt beurteilen, bevor kein einziger Velofahrer mehr absteigen muss oder auf eine andere Verkehrsfläche verdrängt wird? Wie würden wir Bau und Sanierung von Infrastrukturen planen, wenn wir die heutigen Massstäbe des Autoverkehrs auch beim Velo anlegen würden?
Kathrin Hager
Leider scheitern wir oft, weil eine wirkliche Umverteilung des öffentlichen Raums zu wenig konsequent verfolgt wird. Zu stark ist unser Denken und Handeln immer noch MIV orientiert, Schneeräumung und Baustellen sind da die besten Beispiele.
Wir müssen eine neue Denkweise etablieren – und immer wieder deine gut formulierten Fragen stellen.
Guter Beitrag.