Die schon oft gehörte Geschichte
Verkehrsplanerische Studien folgen üblicherweise einem klaren Muster aufbauend auf Strategien der Problemlösung. Das zeigt sich bereits in den Inhaltsverzeichnissen unserer Studien:
Was bei einer solchen Struktur auffällt, ist der entschiedene Charakter: Jeder Arbeitsschritt baut auf einem unumstösslichen, festgelegten Fundament auf. Aus jedem Schritt lassen sich eindeutige Erkenntnisse für die nächste Phase gewinnen. Planung als Fliessbandarbeit? Ist das die Realität?
Die etwas andere Geschichte
Nassim Abou Taleb schreibt in seinem lesenswerten Buch vom Schwarzen Schwan von Mediokristan – der Welt des Mittelwertes, des Mittelmasses, des Vorhersehbaren – und Extremistan – der Welt des Unerwarteten, der statistischen Ausreisser, der disruptiven Entwicklung. In der Planungswelt leben wir oft in Mediokristan: Wir erstellen Berichte mit Inhaltsverzeichnissen wie dem oben dargestellten. Als Verkehrsdaten ziehen wir das Jahresmittel heran, den durchschnittlichen Tagesverkehr und die mittleren Abendspitzenstunde. Nun ist das Mobilitätsverhalten auch oft genug vorhersehbar: Wir Menschen bewegen uns im täglichen und jährlichen Gang nach einem sehr verlässlichen Muster. Und doch können Menschen auch anders: An der Fussball-WM 2014 in Deutschland war der Verkehrsstau vor den Spielen der deutschen Nationalmannschaft ein grosses Thema.
Auch abseits von Grossveranstaltungen müssen wir mit Unsicherheiten und unerwarteten Entwicklungen umgehen, die unsere Lösungsfindung beeinflussen:
Extremistan aufgrund der technischen Entwicklung
Dafür ist das New Yorker Pferdemistproblem ein gutes Beispiel. Im wachsenden New York waren um 1890 immer mehr Pferdefuhrwerke auf den Strassen unterwegs. Und, nun ja, Pferde machen Mist… Die Menschen fürchteten, dass Times Square und Fifth Avenue bald unter einer meterdicken, stinkenden Mistschicht begraben sein würden. Forscher machten sich Gedanken und schlugen Lösungen vor, zum Beispiel das regelmässige Einsammeln des Mistes. Aber dazu hätte es wieder Pferdefuhrwerke gebraucht und die hätten neuen Mist gemacht… Nach der Jahrhundertwende kam das Auto. Dieses löste das Mistproblem – nicht ohne dafür neue Probleme zu schaffen, die aber erst in den letzten Jahrzehnten so richtig erkannt wurden. Dieser zeitliche Verzug zwischen Wissen, technologischer Entwicklung und Verhalten stellt uns vor Herausforderungen: Wir machen Vorhersagen für die Zukunft aufgrund von Daten von heute sowie anhand von Gesetzmässigkeiten von gestern und planen damit die Infrastruktur von morgen.
Extremistan im menschlichen Verhalten
Selbst wenn wir die technologischen Trends erkennen, bleiben Prognosen für neue, bisher kaum verbreitete Angebote schwierig. Ein gutes Beispiel dafür sind hochwertige Veloverbindungen, wie man sie bereits von den Niederlande oder Dänemark kennt und wie sie zunehmend auch in der Schweiz realisiert werden sollen. Wir haben bei ewp für den Kanton Zürich die volkswirtschaftlichen Kosten und Nutzen einer Veloschnellroute im Limmattal untersucht. Dafür mussten wir schätzen, wie viele heutige Velofahrer*innen die neue Route nutzen, vor allem aber, wie viele Menschen mit der neuen Route lieber das Velo nehmen statt wie bisher den ÖV oder das Auto. Wie soll man diesen Effekt schätzen, wenn es heute noch gar keine Beispiele in der Schweiz gibt? Lassen sich die Erkenntnisse aus anderen Ländern übertragen, obwohl sich die Gebiete bzgl. Raumstruktur, ÖV-Angebot, etc. deutlich unterscheiden?
Unvollständige Verkehrsdaten
Wir können mit der Digitalisierung und neuen Technologien zwar differenzierter messen. Wir können mit auch die Wege von einzelnen Menschen nachverfolgen, wenn sie einverstanden sind. Um wirklich zu verstehen, warum sich Menschen wo und wie bewegen, müssen wir aber fragen – und das ist teuer und aufwändig. Auch in Zukunft wird es deshalb Aufgabe von Planer*innen bleiben, die unvollständigen Grundlagen aus unterschiedlichen Quellen zu einem stimmigen Mengengerüst zusammenzusetzen – mit dem diffusen Gefühl, dasselbe zu erleben wie Heisenberg mit seiner Unschärferelation: Mit jedem zusätzlichen Datensatz hat man das Gefühl, dass die ermittelten Werte sich etwas mehr widersprechen und dass das daraus ermittelte massgebende Mengengerüst irgendwie zu wenig taugt.
Singularität verkehrsplanerischer Fragestellungen
Wir arbeiten als Planer*innen nicht in der Industrie. Wir können keine Prototypen im Labor testen, und die Lösung damit sukzessive zur Serienreife zu bringen. Für eine verkehrstechnische Studie zur Frage «Kreisel oder Lichtsignal» sind die Zusammenhänge einigermassen allgemeingültig. Eine kommunale oder regionale Gesamtverkehrsplanung ist dagegen viel schwieriger: Städte und Gemeinden unterscheiden sich in ihrer räumlichen Struktur, Topographie, Arbeitsplatzangebot, Bevölkerungsdichte und -mix, etc. Manche Best-Practice-Elemente lassen sich auf einen anderen Raum übertragen, manche eben nicht.
Diese Fragen sollten wir uns deshalb viel öfter stellen
Machen wir es uns in unseren Studien nicht zu einfach, wenn wir auf diese Unsicherheiten nicht eingehen? Sollten wir nicht den Mut haben, die Unsicherheiten bereits in der Struktur unserer Berichte zu benennen? Ist ein einzelnes massgebendes Mengengerüst (auch mit 10% Reserve) überhaupt sinnvoll? Oder müssten wir nicht noch häufiger mit zwei, drei oder vier Szenarien arbeiten? Haben wir zu viel Angst davor, unser Nichtwissen zuzugeben? Wäre es nicht mutiger und besser, zu den Grenzen unseres Wissens zu stehen und dafür aufzuzeigen, wie wir mit den damit verbundenen Risiken umgehen? Zum Beispiel mit resilienten Verkehrsräumen, die auch auf verändertes Mobilitätsverhalten angepasst werden können? Oder mit Feldversuchen oder Testbetrieben im Sinne der Prototypen aus der Industrie?
In einem 2013 abgeschlossenen SVI-Forschungsbericht wurde richtigerweise gefordert, dass Planung Flexibilität auf 3 Ebenen erfordert (im Denken, in Bezug auf die vielfältigen Anforderungen und in Bezug auf künftige Eventualitäten). Müsste diese Flexibilität nicht stärker in unseren Arbeiten sichtbar werden?
Susanne Zollinger
Grossartig!
Ich schliesse daraus, dass wir Methoden brauchen, die Unsicherheiten und Komplexität fassbarer machen. Für mich ist Design Thinking darum seit acht Jahren die Methode der Wahl.
Seit ich von dem sehr generischen Framework gehört habe, hat es mich nicht mehr losgelassen. Ich habe jedes Jahr besser verstanden, wie mächtig und flexibel die Methode (oder Haltung) ist.
Camille Girod
Sehr spannnende Gedanken,die ich häufig im Berufsalltag auf die eine oder andere Art selber auch führe.
Danke Stephan!